Die Heuchelei der USA

Sie sprechen von einem Waffenstillstand am Gazastreifen aber ihr UN-Resolutionsentwurf spricht eine komplett andere Sprache



US-Außenminister Antony Blinken ist zurück in Israel, wo er sich gerade mit Premierminister Benjamin Netanjahu getroffen hat. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem die Vereinigten Staaten eine Resolution des UN-Sicherheitsrates für einen Waffenstillstand im Gazastreifen eingebracht haben.

Trotz des wachsenden internationalen Drucks setzt Israel seinen Krieg gegen das belagerte Gebiet fort. Der israelische Militärangriff auf Al-Shifa, das größte Krankenhaus in Gaza, dauert nun schon den fünften Tag an. Hunderte von Palästinensern wurden Berichten zufolge von israelischen Streitkräften getötet oder festgenommen. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat versprochen, die Invasion von Rafah fortzusetzen, wo mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens Zuflucht gesucht hat.

US-Außenminister Blinken sprach am Donnerstag aus Kairo, Ägypten:

„Wir brauchen einen sofortigen, dauerhaften Waffenstillstand mit der Freilassung der Geiseln, der Raum schafft, um mehr humanitäre Hilfe zu leisten, das Leiden vieler Menschen zu lindern und etwas Dauerhafteres aufzubauen.“

Eine Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über den US-Vorschlag könnte bereits heute stattfinden, aber der Wortlaut der Resolution wurde kritisiert, weil er nicht weit genug geht. Eine Gruppe nicht ständiger Mitglieder des UN-Sicherheitsrats hat eine separate Resolution verfasst, in der ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand gefordert wird. Bisher haben die USA die Forderung nach einem Waffenstillstand im Gazastreifen wiederholt blockiert.

Am Donnerstag sprach US-Außenminister Blinken auch über die humanitäre Krise in Gaza:

„Kinder sollten nicht an Unterernährung sterben, weder in Gaza noch irgendwo sonst. Hundert Prozent – 100 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens leiden unter akuter Nahrungsmittelknappheit. Wir können und dürfen nicht zulassen, dass das so weitergeht.“.

Was wir hier sehen ist ein Spiel mit Worten. Was anders ist, ist die Sprache der Biden-Administration. Wir haben es gestern von US-Außenminister Blinken gehört, auch hören wir es von Präsident Biden und von anderen, die das Wort „Waffenstillstand“ verwenden, in einigen Fällen fiel sogar das Wort „sofortiger Waffenstillstand“. Die New York Times berichtet, daß die USA eine Resolution in den UN-Sicherheitsrat einbringen, in der ein sofortiger Waffenstillstand gefordert wird.

Das ist jedoch nicht der Fall. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, was die US-Resolution tatsächlich fordert. Es gibt keine formelle Verteilung dessen, was die USA tatsächlich gestern zur Abstimmung vorlegen werden. Es kursieren mindestens drei verschiedene Versionen. Aber in der entscheidenden Beschreibung stimmen sie alle überein. Denn sie steht im ersten Absatz. Der erste Absatz der Resolution spricht von einem sofortigen Waffenstillstand, aber er ruft nicht wirklich zu einem Waffenstillstand auf. Vielmehr wird die Bedeutung eines Waffenstillstands anerkannt, und dann heißt es: „Und deshalb sollten wir die laufenden Verhandlungen in Doha, Katar unterstützen.“. Diese Verhandlungen laufen bereits seit Wochen. Dabei geht es hauptsächlich um die Freilassung der Geiseln sowie um die Parameter eines kurzfristigen Waffenstillstands, der wahrscheinlich sechs Wochen dauern wird. Das Wichtigste ist jedoch, daß der US-Entwurf keine Aufforderung des UN-Sicherheitsrates zu einer Waffenruhe vorsieht.

Die Sprache der acht der zehn gewählten Mitglieder des Sicherheitsrates ist viel einfacher und viel direkter. Sie besagt ausdrücklich, daß der Sicherheitsrat einen sofortigen Waffenstillstand fordert, der von allen Parteien respektiert wird und zu einem dauerhaften Waffenstillstand führt. Punkt. Aus. Die Sprache der Vereinigten Staaten ist sehr verworren. Es gibt verschiedene Versionen von „Der Sicherheitsrat stellt fest, daß ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand zum Schutz der Zivilbevölkerung auf allen Seiten unabdingbar ist“, und dann steht da etwas von „Und deshalb unterstützen wir unmissverständlich die laufenden Verhandlungen“.

Damit wird dem UN-Sicherheitsrat die gesamte Autorität entzogen. Der Rat wird im Wesentlichen zu einer Gruppe von Befürwortern der laufenden Verhandlungen und es wird jeglicher zusätzliche Druck genommen, den eine tatsächliche Forderung des UN-Sicherheitsrates nach einem sofortigen Waffenstillstand hätte, denn Resolutionen des Sicherheitsrates sind, wie wir wissen Teil des internationalen Rechts. Sie sind einklagbar. Das bedeutet nicht, daß sie durchgesetzt wird aber es ist ein sehr starkes Signal, die eine bloße Anerkennung über die Wichtigkeit eines Waffenstillstandes einfach nicht ist, da sie keine Rechtsverbindlichkeit besitzt.

Diese US-Resolution ist schon seit geraumer Zeit in Vorbereitung. Die Resolution von acht der zehn gewählten Mitglieder ist eine neue Entwicklung. Sie wurde erst in den letzten Tagen veröffentlicht. Es wird nicht davon ausgegangen, daß sie eine direkte Reaktion auf diese Entwicklung ist. Sie ist allerdings eindeutig eine Reaktion auf die massive Eskalation des politischen Drucks. Sowohl von Regierungen als auch von der Zivilgesellschaft, sicherlich in den Vereinigten Staaten, aber auch weltweit, wo es Forderungen und Empörung über die Position der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen gibt. Es ist ein sich wiederholendes beständiges Muster, in der die USA im UN-Sicherheitsrat ihr Veto gegen jegliche Forderung nach einem Waffenstillstand einlegt und in der UN-Generalversammlung, in der sie kein Veto-Recht haben dagegen stimmen. Sie üben Druck – wirtschaftlichen wie politischen Druck – auf andere Länder aus, um sie zu ermutigen oder in einigen Fällen sogar unter Druck zu setzen gegen diese Resolutionen zu stimmen. Die Empörung ist groß. Und die US-Regierung und insbesondere die Regierung Biden hat sich dadurch sehr isoliert.

In den USA sehen wir eine enorme Eskalation der Opposition gegen die Biden-Administration, die darauf besteht Israel weiterhin zu unterstützen, Militärhilfe zu schicken, trotz der Anerkennung der vorherrschenden Hungersnot, der sog, Anerkennung der humanitären Krise, die jeden Tag Hunderte von Menschen tötet, wie wir gerade wieder von US-Außenminister Blinken gehört haben. Wenn wir von den humanitären Experten hören, daß der Grad der Hungersnot bei 55% der gesamten Bevölkerung des nördlichen Gazastreifens liegt, ist das der höchstmögliche Grad der absoluten Hungersnot, die bedeutet, daß selbst wenn heute in großem Umfang Lebensmittel geliefert würden, wahrscheinlich Hunderte, vielleicht sogar Tausende der am meisten gefährdeten Menschen, vor allem Babys, Kinder und ältere Menschen in Gefahr wären zu sterben, weil ihre Körper so zersetzt, wie regelrecht zerstört durch den Mangel an Nahrung und Wasser über so lange Zeit sind. Wir haben es also mit einer absoluten Krise zu tun, einer absoluten menschlichen Katastrophe. Stattdessen hören wir Wortspiele bei den Vereinten Nationen: Wie können wir den Begriff „Waffenstillstand“ so verwenden, daß jeder sagt: „Oh, sie rufen zu einem Waffenstillstand auf“, ohne einen Waffenstillstand zu fordern?

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu am Dienstag vor dem israelischen Parlament über die Pläne die israelischen Bodentruppen in Rafah einmarschieren zu lassen, wo mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens Zuflucht gesucht hat, im Wortlaut:


„Wir teilen natürlich den Wunsch, einen geordneten Abzug der Bevölkerung aus Rafah zu ermöglichen und die Zivilbevölkerung mit humanitärer Hilfe zu versorgen. Das tun wir schon seit Beginn des Krieges. Aber ich habe dem Präsidenten, Joe Biden, in unserem Gespräch deutlich gemacht, daß wir entschlossen sind die Hamas-Bataillone in Rafah vollständig zu eliminieren, und dass es keinen anderen Weg gibt, dies zu tun, als vor Ort einzugreifen.“.

Die Heuchelei der USA 2

Hier sprach er also vor dem israelischen Parlament. Er sprach auch vor Republikanern in einer geschlossenen Sitzung. Und es stellt sich die Frage, ob der Sprecher des Repräsentantenhauses ihn zu einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses einladen wird. Welche Bedeutung haben die Forderungen nach Neuwahlen, die kein Geringerer als der Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer erhoben hat. Ist das eine echte Veränderung gegenüber der Art und Weise, wie er die israelische Führung willkommen hieß?

In den letzten 15 Jahren hat sich die langjährige Unterstützung der USA für das israelische Militär, seine militärische wie wirtschaftliche, politische und diplomatische Unterstützung – wie sich all das in Washington darstellt, deutlich verändert. Es ist ein viel parteiischeres Thema geworden, etwas, das Gruppen wie AIPAC und andere Teile der Pro-Israel-Lobby immer vermeiden wollten. Sie wollten immer, daß die Unterstützung Israels ein parteiübergreifender Konsens ist. Und das ist nicht mehr der Fall. Die Umfragen zeigen nun schon seit Jahren, daß ein massiver Wandel im Gange ist. Es ist vor allem ein Generationswechsel, aber auch ein Wechsel zwischen den Parteien: Auf der Seite der Demokraten hat die Unterstützung für Israel stark abgenommen, während auf der Seite der Republikaner Israel mit offenen Armen empfangen wird.

Was wir jetzt sehen, ist eine Fortsetzung dessen. In 2015 hat die republikanische Führung im Repräsentantenhaus Netanjahu, der damals auch Premierminister war, eingeladen vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses zu sprechen, um Druck auf Präsident Obama auszuüben und sich gegen das Iran-Atomabkommen zu stellen, welches damals diskutiert wurde. Und das war eines dieser Dinge, die diplomatisch ungeheuerlich waren. So etwas hatte es noch nie gegeben. Es gab keine Absprache mit dem Weißen Haus. Normalerweise werden Staatsoberhäupter vom Präsidenten eingeladen. Das hat so nicht stattgefunden. Netanjahu ignorierte das Weiße Haus, kam auf Einladung der republikanischen Führung des Repräsentantenhauses und hielt im US-Kapitol eine Art Wahlkampfrede, als ob es sein eigenes Kapitol wäre, in der er die Mitglieder des Kongresses aufforderte im Interesse seines Landes gegen ihren eigenen Präsidenten zu stimmen. Als Reaktion darauf boykottierten über 60 Mitglieder, vor allem der progressiven und insbesondere der schwarzen Fraktion des Kongresses aus Protest gegen den Rassismus Netanjahus gegenüber Präsident Obama die Rede. Das war etwas, das noch nie zuvor geschehen war.

Was wir aktuell sehen ist eine echte Verschiebung der politischen Parameter. Die Diplomaten und ehemaligen Militärs in den Vereinigten Staaten haben eine Neubewertung der US-Hilfe für Israel gefordert und sagten, daß sie an Bedingungen geknüpft werden muss und nicht auf diesem Niveau fortgesetzt werden darf. Wir sehen, daß dies von allen möglichen neuen Seiten kommt, auch von Geldgebern der Biden-Kampagne. Der Druck nimmt in einer Weise zu, wie man es in den letzten Jahrzehnten zu diesem Thema noch nie erlebt hat.

Zitat aus den über hundert demokratischen Spendern und Aktivisten, die an die Kampagne von Präsident Biden geschrieben haben und davor warnen, daß die Unterstützung des Präsidenten für Israels Angriff ihn die Wahl kosten könnte: „Wegen der Desillusionierung eines kritischen Teils der demokratischen Koalition erhöht der Gaza-Krieg die Chancen eines Trump-Sieges.“ – Zitatende. Ehemalige Diplomaten, Leute aus dem Pentagon, dem Außenministerium, dem Weißen Haus, wie Clintons nationaler Sicherheitsberater Anthony Lake, sprich: Leute aus dem Establishment – sagen, daß sich das ändern muss. Dennoch scheint Präsident Biden, gelinde gesagt, seine Füße in dieser Angelegenheit still zu halten. Die ganze Frage um die Waffen, die Lieferung von Waffen an Israel. Aus dem Washington Post Exposé ist bekannt, daß über hundert Waffenlieferungen in dieser Zeit knapp unter der Schwelle liegen, wo sie vom Kongress genehmigt werden müßten. Doch gleichzeitig gibt es Senatoren wie Van Hollen, Merkley, die beide in Rafah waren und andere, die sagen: „Stoppt die Waffenverkäufe“.

Es ist wichtig, daß die Waffenexporte gestoppt werden.

Eines der Dinge, auf die hingewiesen werden muß ist die Tatsache, daß Chuck Schumer sich gegen Netanjahu ausgesprochen hat und daß es im Moment einen Versuch gibt, Premierminister Netanjahu zu isolieren. Und das ist sicherlich angemessen. Er ist unter anderem deshalb noch an der Macht, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Es ist ein sehr persönlicher Kreuzzug seinerseits. Aber wir müßen uns darüber im Klaren sein, daß die Leute, die ihn wahrscheinlich ersetzen werden, wenn er entweder zurücktritt oder in einer Wahl abberufen wird, alle diesen Krieg unterstützen. Wir sollten uns also nicht der Illusion hingeben, daß Netanjahu’s Nachfolger in Washington mit offenen Armen mit der Zusicherung von Waffen, bzw. hunderten von kleineren Waffenlieferungen, die nicht unbedingt vom Kongress genehmigt werden müssten empfangen wird. Dies ist eine sehr gefährliche Realität. Wir müßen uns darüber im Klaren sein, dass dies eine systemische Entscheidung der israelischen Führung ist. Es handelt sich nicht um eine Ein-Mann-Show in diesem schrecklichen Völkermord-Krieg, der in Gaza geführt wird. Wir müßen aufpassen, daß wir nicht in die Falle tappen, alles auf eine Person zu schieben und dann zu denken, daß wenn eine Person ersetzt wird, dies eine Lösung für alles wäre.

Bilder: vovworld.zadn.vn
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