Die UN und ihre zwei Gesichter

Mitte Februar 2024 ordnete Benjamin Netanjahu die Evakuierung der Bevölkerung des Bezirks Rafah im Gazastreifen an, bevor eine Bodeninvasion erwartet wird. Der Generalsekretär von Amnesty International warnte, daß die Zivilbevölkerung im Gazastreifen von einem Völkermord bedroht sei, wenn Israel dies anordnet. Bis Februar 2024 hat Israel mehr als 28000 Palästinenser getötet, und wahrscheinlich sind es noch mehr, denn viele von ihnen sind noch immer in den Trümmern verschollen. Craig Mokhiber gibt eine Einschätzung über die UN in Bezug auf die Lage auf dem Gazastreifen.

Die grundlegende Dynamik, vor der Craig Mokhiber und andere bereits im Oktober gewarnt haben hat sich nicht geändert. Israel operiert in einer Sphäre der absoluten Straffreiheit, weil die Aktivitäten Israels in Gaza und anderswo von den USA, Großbritannien und einem Großteil Europas unterstützt werden, wie er in seinem Brief angedeutet hatte, und das hat sich nicht wesentlich geändert. Wir haben ein brutales Abschlachten von Zivilisten in Gaza erlebt, eine große Zerstörung der zivilen Infrastruktur in Gaza, die im Norden beginnt und sich nach Süden vorarbeitet. Bis Februar 2024 stand die Hälfte der Bevölkerung buchstäblich an der Grenze von Rafah, der südlichsten Stadt des Gazastreifens, und ist bereit, das nächste Ziel dieses andauernden Massakers zu werden. Es ist ein andauernder Völkermord, und solange sich diese Dynamik nicht ändert, solange die Staaten nicht anfangen, ihre internationalen Verpflichtungen zu respektieren, solange internationale Organisationen nicht aufhören, mächtige Mitgliedsstaaten wie die USA zu fürchten, wird sich auch auf internationaler Ebene nichts ändern.

Die USA, Großbritannien und die westlichen Länder haben einen so außerordentlichen Einfluss auf das, was Israel tut. Sie geben ihnen die Waffen, sie geben ihnen die wirtschaftliche Unterstützung, sie geben ihnen diplomatischen Schutz. Bei der Behandlung im UN-Sicherheitsrat enthalten sich die USA der Stimme, sie legen ihr Veto ein. Sie tun alles, was nötig ist, um Israel diplomatische Rückendeckung zu geben. Wir mögen uns fragen, ob die UN überhaupt in der Lage sei, mehr zu sein als ein verlängerter Arm oder ein Werkzeug westlicher Interessen.

Es ist in dem Maße, in dem die UN als eine Erweiterung der westlichen Macht funktioniert klar, daß die UN nicht existieren soll. Das soll heißen, daß in dem Maße, in dem die UN als Instrument westlicher Macht funktioniert, sie nicht zu existieren hat. Aber innerhalb der UN gibt es Spannungen. Die UN wurde als eine normative Institution gegründet, als eine konstitutionelle Institution, die sich mit internationalem Recht, internationalen Menschenrechten, friedlicher Streitbeilegung und internationaler Entwicklungszusammenarbeit befassen sollte, aber es gibt eine andere Seite der UN, die politische Seite des Hauses, die nicht an der vollständigen Einhaltung dieser Normen und Standards des internationalen Rechts interessiert ist, sondern eher an einer Art Ehrerbietung gegenüber der Macht. UN-Beamte und UN-Büros, die sozusagen dorthin gehen, wo die Macht ist, werden immer zugunsten der Unterdrückung abwägen und nicht zugunsten ihrer Mission oder ihres Mandats. Und die Menschen, die in der UN an vorderster Front stehen, wie die humanitären Helfer, die Menschenrechtsaktivisten, die mehr als 150 UNRWA-Mitarbeiter, die in den letzten Monaten durch israelische Bomben und Kugeln ermordet wurden, sind heldenhafte Verfechter der Normen und Standards der Organisation, aber sie wurden von der politischen Führung und von einigen der zwischenstaatlichen Organe im Stich gelassen. Wir alle kennen die Geschichte des Sicherheitsrates, der durch das Veto der USA in dieser Angelegenheit absolut machtlos ist, und jedes Mal, wenn die USA ein Veto gegen einen Waffenstillstand eingelegt haben, starben abertausende unschuldige Zivilisten/Menschen in Gaza. Dort steht man vor der Herausforderung einer massiven institutionellen Reform, aber das ist nicht der Fall, wenn es um die politische Führung geht. Nichts hindert hochrangige UN-Politiker daran, sich die Macht der Wahrheit zu verpflichten, und es ist ihre Aufgabe, dies zu tun. Wenn es sich um eine Verletzung der Normen und Standards der UN handelt, ist es ihre Aufgabe, dies zu tun.

Die UN ist fähig und hat in der Vergangenheit ihre Positionen mit ihren eigenen Normen und Standards in Einklang gebracht. Denke man an die Apartheid in Südafrika. Die UN vertrat bis zum Ende der Apartheid in Südafrika eine prinzipienfeste, auf Recht und Gesetz basierende Position für die Gleichheit der internationalen Menschenrechte und des internationalen Rechts. In Palästina haben sie diese Position vor 30 Jahren zugunsten eines amorphen politischen Projekts aufgegeben, bei dem irgendwo auf dem Weg eine Zweistaatenlösung versprochen wurde, die zu einer Nebelwand wurde, hinter der wir fortgesetzte Verfolgung, Enteignung, massive und systematische Menschenrechtsverletzungen sahen, die jetzt zu Völkermord führen.

Es stimmt, daß nur ein Gericht in letzter Instanz feststellen kann, ob es sich um Völkermord handelt oder nicht, aber die UN-Konvention über Völkermord schreibt nicht nur Völkermord vor, sondern auch die Verhinderung von Völkermord. Und die UN ist bereit, ihre Stimme zu erheben, wenn sie Folter, Kriegsverbrechen und sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit feststellt, ohne auf eine Gerichtsentscheidung zu warten. Wenn ein Verbrechen aller Verbrechen begangen wird, kann man nicht warten, bis sich der Staub gelegt hat und das Blut getrocknet ist, um das Wort Völkermord überhaupt in den Mund zu nehmen. Dies ist ein klassischer Fall, wie aus dem Lehrbuch, von Völkermord.

Die Menschen sagen, daß die Situation hier nicht so einfach sei und dadurch komplex, daß Israel einen Völkermord begeht. Selbst der 7. Oktober steht als Beispiel für ein Kriegsverbrechen gegen Israel und Israels Reaktion darauf. Die Menschen nehmen es als komplex wahr, doch in Wirklichkeit ist das nicht so komplex, so wie die Menschen es annehmen. Viel eher ist es ein rhetorisches Mittel, das verwendet wird, um zu verhindern, daß die Situation vor Ort klar gesehen wird. Das ist auch die Todsünde der UN. Sie sind bereit, über humanitäre Hilfe zu sprechen, sie sind bereit, sogar über einen Waffenstillstand zu sprechen, aber sie sind nicht bereit, über die eigentlichen Ursachen zu sprechen, sie sind nicht bereit, über Siedler-Kolonialismus zu sprechen, sie sind nicht bereit, über Apartheid zu sprechen. Im Falle Israels und Palästinas trauen sie sich nicht, über die eigentlichen Ursachen zu sprechen und reden stattdessen von einer eventuellen Zweistaatenlösung. Das wird die Konflikte nicht lösen. Die einzige Lösung des Konflikts ist natürlich eine Situation, in der Christen, Muslime, Juden und andere gleichberechtigt sind, aber niemand ist bereit, darüber zu sprechen, und ist ganz klar Hinhaltetaktik/Ausrede. Es erklärt auch, warum die Situation nun schon seit 76 Jahren andauert und warum die derzeitigen Bemühungen, den Völkermord zu beenden, nicht wirksam sein werden.

Das andere, nicht komplexe Element ist der Völkermord. Craig Mokhiber hat sich als internationaler Menschenrechtsanwalt damit befasst, und nach dem Wortlaut der Völkermordkonvention, nach der internationalen Rechtsprechung steht außer Frage, daß die beiden Hauptelemente des Völkermordes – die Absicht und die Handlungen des Völkermordes, wie sie in der Konvention definiert sind, hier offenkundig gewesen sind, und insbesondere dann, wenn man eine Situation hat, in der die Führung Israels, politisch wie militärisch – der Präsident, der Premierminister, mindestens sieben Kabinettsminister, die militärische Führung selbst – offen, öffentlich und wiederholt ihre Absicht auf Völkermord erklärt haben, muss man sie beim Wort nehmen. Das ist nicht komplex, das ist Völkermord.

Israel sagt, die UN habe es auf sie abgesehen. Der israelische Energieminister beschuldigte am 7. Oktober den UN-Generalsekretär Antonio Guiterrez, die Hamas zu unterstützen und die Ermordung älterer Menschen, die Entführung von Kindern und die Vergewaltigung von Frauen zu billigen. Der israelische Minister des Kriegskabinetts bezeichnete den UN-Chef ebenfalls als Terror-Apologeten. Doch die wenigsten wissen, daß es zwei Seiten der UN gibt. Es gibt die UN, die auf dem Völkerrecht basiert, und diese UN ist eine Form, in der Israel nicht gewinnen kann, weil es gegen alle Normen und Standards der Organisation verstößt, wegen der Enteignung, wegen der Apartheid, wegen der institutionalisierten Diskriminierung, wegen der Verfolgung, wegen der Besatzung. All dies sind Verstöße gegen das Völkerrecht, aber es gibt noch eine andere Seite der UN, nämlich die politische Führung der UN und einige der ängstlicheren oder kompromittierten zwischenstaatlichen Gremien. Das sind die Seiten der UN, die diese Normen und Standards ignorieren, die das internationale Recht ignorieren und sich der Macht der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Europas beugen, manchmal auch andere Großmächte, und die Frustration, die die israelischen Führer zum Ausdruck bringen, besteht darin, daß sie keine Straffreiheit bekommen, wenn die Normen und Standards angewandt werden, aber sie wissen, daß sie ein Publikum für Straffreiheit haben, wenn es um die politische Führung geht, und sie wissen auch, daß in den letzten Jahren ein Netzwerk von israelischen Lobbygruppen aufgebaut wurde, die sich speziell darauf konzentrieren, UN-Beamte und UN-Mechanismen zu verfolgen, die es wagen, sich gegen israelische Gräueltaten auszusprechen, sowie die ehrlichen Aussagen jener zu unterdrücken, sprich die Bereitschaft von hochrangigen UN-Beamten, die Wahrheit entgegen der regierenden Mächte auszusprechen. Das sind also zwei UNs und sie sind beabsichtigt. Aber die UN, die einfach nur Ausdruck der politischen Macht des Westens ist, ist nicht die UN, die die Welt braucht; was die Welt braucht, ist das Versprechen der UN, daß die Welt von der Rechtsstaatlichkeit, dem Völkerrecht und den internationalen Menschenrechten regiert wird.

Es gibt auch eine sehr pragmatische und praktische UN. Das ist die UN, die lebensrettende humanitäre Hilfe leistet, das ist die UN, die sicherstellt, daß die palästinensischen Flüchtlinge eine gewisse Möglichkeit der Wiederansiedlung haben. Wenn die UN in vielerlei Hinsicht der letzte Ausweg für die Palästinenser ist, besteht dann nicht die Gefahr, taktisch gesprochen, daß man die UN jetzt so kritisiert? Israel hat das schon von der anderen Seite aus getan. Wenn man die UN von seinem Standpunkt aus kritisiert, geht man das Risiko ein, daß man praktisch die Chance untergräbt, daß die Palästinenser Hilfe bekommen. Es ist wichtig darauf zu achten, zwischen diesen zwei Gesichter/Parteien der UN zu unterscheiden, wenn man die UN kritisiert. UNRWA zum Beispiel – für ihre Taten absolut heldenhaft, mußte mit dem Leben seiner 150 Mitarbeiter bezahlen, die in diesem Völkermord von Israel ermordet wurden – existiert wegen der Verweigerung der Rechte und des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes. Das palästinensische Volk will sich nicht auf UNRWA verlassen, aber muß es dennoch, denn die Menschen in Gaza waren bereits Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Israels. Sie wurden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit durch Massaker und Angriffe aus ihren Häusern vertrieben und in den Gazastreifen gezwungen, wo sie sich auf eine UN-Agentur verlassen mussten, um Bildung, Gesundheitsfürsorge, Unterkunft zu erhalten und ihre bloße Existenz zu „sichern“, und das ist genau der Grund, warum Israel UNRWA mit seinen wiederholten verlogenen, falschen Behauptungen über Fehlverhalten seitens UNRWA angreift. Und man stelle sich vor, selbst wenn ein paar Leute an einigen Verbrechen beteiligt waren, selbst wenn das der Fall wäre, rechtfertigt das keine Anklage gegen UNRWA. UNRWA hat 13.000 Mitarbeiter in Gaza, 30000 Mitarbeiter insgesamt. Wenn man eine Liste von Leuten erstellen würden, die für die US-Regierung gearbeitet und Verbrechen begangen haben, würde das dann bedeuten, daß die US-Regierung aufgelöst werden muss? Das ist in jeder Hinsicht eine absurde Behauptung, denn erstens gibt es keine Beweise dafür, daß irgendjemand bei UNRWA ein Verbrechen begangen hat, und zweitens rechtfertigt es, selbst wenn es so wäre, keine Anklage gegen UNRWA. Das eigentliche Ziel ist die Zerstörung von UNRWA, weil UNRWA Israel bei der Eliminierung des palästinensischen Volkes im Wege steht.

Bild: UN, Redaktion
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